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Titel
Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart


Autor(en)
Lang, Josef
Erschienen
Baden 2020: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
CHF 39,00; € 39,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Siegfried Weichlein, Departement Historische Wissenschaften, Universität Freiburg (Schweiz)

Bücher über die Demokratie und ihre Krisen haben Konjunktur.1 Es birgt seinen besonderen Reiz, wenn ein Historiker, der gleichzeitig Politiker ist, einen historischen Überblick über die Demokratie in seinem Lande gibt. Der frühere grüne Nationalrat für den Kanton Zug Josef Lang beobachtete als Politiker und als Historiker die Entwicklung der Demokratie in der Schweiz und kommentierte sie lange als Publizist. Denn auch hier wird eine Debatte um die Demokratie, ihre gegenwärtigen Probleme und ihre Zukunft geführt. Hierbei geht es vor allem um die Konflikte zwischen repräsentativer und direkter Demokratie, die immer wieder über Kreuz liegen. In der sehr heterogenen Schweiz mit ihren vier Sprachengruppen, 26 Kantonen und vielen regionalen Prägungen dreht sich viel um das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit und überhaupt um den Umgang mit Minderheiten. Josef Lang unternimmt auf 276 Seiten einen historischen Längsschnitt bis weit in die Frühe Neuzeit zurück, um die Geschichte der Demokratie und ihrer Konflikte zu erläutern.

Er beginnt mit einer „critical juncture“ der Schweizer Demokratiegeschichte, der Verfassungsrevision von 1874. In dieser „weltweit fortschrittlichsten Verfassung“ (S. 21) waren neue demokratische Institutionen gegründet und gegen das „System Escher“ gesichert worden. Der Züricher Bankier Alfred Escher stand für die frühe Phase der Eidgenossenschaft mit ihrem weitreichenden Einfluss finanzkräftiger Unternehmer und Bankiers auf Politik und Gesellschaft. Dagegen wandte sich eine Gruppe von Reformern, die Zürcher Demokraten, die das fakultative Gesetzesreferendum zuerst in Zürich und später in der Schweiz durchsetzten. 1862 protestierten die Aargauer Demokraten erfolgreich gegen den Ausschluss der Juden vom Bürgerrecht in den beiden „Judendörfern“ Lengnau und Endingen im aargauischen Surbtal. Was kantonal begann, wuchs sich zu einem Kennzeichen der Totalrevision der Schweizer Verfassung 1874 aus. Der Autor benennt als demokratische Errungenschaften der Links-Allianz im Bundesparlament die Säkularisierung des Staates, mehr Rechte einschließlich des Bürgerrechts für Niedergelassene, mehr Arbeiterschutz und vor allen Dingen die Einführung fakultativer Gesetzesreferenden mit Volksmehr ohne Ständemehr, was erst der Stichentscheid des Berner Nationalratspräsidenten Rudolf Brunner am 27. Januar 1872 ermöglichte. Doch fügte sich das in eine längere Geschichte der Volksrechte ein. Schon die Bundesverfassung von 1848 enthielt das obligatorische Verfassungsreferendum und 1891 kam die Volksinitiative auf Partialrevision der Verfassung hinzu. Bereits 1831 konnte im Kanton St. Gallen ein Volks-Veto Gesetze des Großen Rates zu Fall bringen. So entwickelte sich allmählich ein neuer Typus Demokratie. Die wichtigsten politischen Entscheidungen wurden nicht repräsentativ an das Parlament und eine Regierung delegiert, sondern Regierung, Parlament und Volk mussten hier zusammenarbeiten. Es entstand eine „halbdirekte Demokratie“, ohne dass Josef Lang sich dieser Formulierung anschließt.2

Nach der Einleitung zur demokratischen Totalrevision der Schweizer Verfassung wendet sich Josef Lang in fünf Kapiteln der Zeit davor seit ungefähr 1700 und in vier längeren Kapiteln der Zeit danach bis heute zu. Abschließend benennt Lang zehn Herausforderungen zur Zukunft der Demokratie in der Schweiz. Im Anhang findet sich eine 30-seitige Chronologie der Schweiz seit 1700 sowie ein Personenregister.

Die zehn chronologischen Kapitel dieser Geschichte der Demokratie in der Schweiz weisen mehrere Leitmotive auf, die immer wiederkehren. Diese Leitmotive ergeben sich aus Langs dezidiert egalitärem Verständnis von Demokratie und benennen deren wichtigste Hindernisse. Für Josef Lang liegen sie erstens in der institutionalisierten Ungleichheit zwischen den Kantonen und ihren Untertanengebieten, zwischen den Bürgern und den Beisassen. Erst die Helvetik (1798–1803) und die Regeneration ab 1830 beendeten diese Praxis allmählich. Nicht zufällig kamen alle Bundesräte von 1848 aus ehemaligen Untertanengebieten. Dennoch liest Josef Lang die Bundesstaatsgründung 1848 als „Relativierung des politischen, aber nicht des wirtschaftlichen Liberalismus“, was den Aufstieg des „Escherschen Systems“ begünstigte (S. 127). Für Lang haben die Liberalen die Revolution von 1848 schlichtweg verraten (S. 170).

Zweitens findet Lang die Ursachen für die verwickelte Schweizer Demokratiegeschichte in den konträren Vorstellungen über den Zusammenhalt der Gesellschaft. In der Westschweiz, besonders in Genf und Neuchâtel, aber auch bei liberalen Deutsch-Schweizern, die aus der Tradition der Aufklärung kamen, herrschte eine mechanistisch-aufklärerische Vorstellung von Gemeinschaft vor, die um das mündige Individuum kreiste, bei den Konservativen dagegen eine religiös-organizistische. Die Landsgemeinde, heute nur noch in wenigen Kantonen wie Appenzell Innerrhoden praktiziert, verkörpert für Josef Lang dieses antidemokratische Ideal par excellence. „Vor allem befördert die religiöse Prägung des Politischen, die politische Prägung des Religiösen und deren kollektive Ritualisierung und Zelebrierung ein Körperkonzept, das der liberal-aufklärerischen Grundidee eines mündigen Individuums nicht nur widerspricht, sondern auch im Wege steht“ (S. 78). Was bei Ferdinand Tönnies schon reichlich schematisch „organische Gemeinschaft“ und „mechanische Gesellschaft“ hieß, wird bei Lang endgültig zur Karikatur und zum Passe-partout, sobald es Konflikte zu erklären gilt. Ein Freund der Differenzierung ist er nicht.

Im 20. Jahrhundert traten diese Hindernisse in verwandelter Form auf den Plan. Josef Lang periodisiert anders als die meisten Historikerinnen und Historiker und spricht mit guten Gründen von einer langen autoritären Phase von 1914 bis 1968. Das Prinzip der Ausnahmegesetzgebung aus den Zeiten von Weltkrieg und Wirtschaftskrise von 1914 bis 1945 setzte sich in der antikommunistischen Geistigen Landesverteidigung nach 1945 im Kern fort. Weder 1945 noch 1959, als die Zauberformel die Sozialdemokraten endgültig in den Bundesrat integrierte, sind Zäsuren in dieser Demokratiegeschichte.

Josef Langs Geschichte der Demokratie in der Schweiz ist ganz auf den Nationalrat, die Herrschaftsperspektive und die Gleichheit aller Schweizer und später auch Schweizerinnen fokussiert. Wiederholt feiert oder fordert Josef Lang das Ende des Ständemehrs. Bereits bei der Bundesstaatsgründung 1848 hält er den Ständerat und vor allem das Ständemehr für einen Geburtsfehler. Das spiegelt die traditionelle unitarische Konzeption der Demokratie auf der Linken genauso wie deren Distanz zum Föderalismus. Dieses engagierte und meinungsstarke Buch eines Parlamentariers geht erstaunlicherweise einem Grundthema der Schweizer Demokratie aus dem Weg: Wie kann man Demokratie in einem föderal gegliederten System organisieren, bei dem alle Teile Wert auf ihre Eigenständigkeit legen? Der Schweizer Föderalismus ist älter als die Demokratie und akzeptiert – wie die Vereinigten Staaten – mehr Ungleichheit als etwa der Föderalismus in der Bundesrepublik, worauf etwa Gerhard Lehmbruch und der Historische Institutionalismus immer wieder hingewiesen haben.3 Mehr noch: Regionale Eigenheiten, der Dialekt und der Eigensinn lokaler Gemeinschaften sind seit den 1970er-Jahren wieder stärker hervorgetreten. Umso wichtiger wird die Frage nach der Demokratie im föderalen Mehrebenensystem.

Josef Lang schreibt eine normative Demokratiegeschichte entlang der Geschichte der Gleichheit. Naturgemäß arbeitet er mit einigem Licht und viel Schatten und weiß immer genau, wo der Feind steht. Dabei macht er viele Formen der Ungleichheit sichtbar. Aber was entgeht dem Blick der normativen Geschichtsschreibung? Diese Studie bleibt in einer Art von methodischem Nationalismus auf die Schweiz bezogen. Erstaunlicherweise stellt sich der Autor in seiner Analyse nur in einer knappen Seite ganz am Schluss der Globalisierung. Als Politiker war er für seine Kritik am Finanzplatz Zug hart angegriffen worden. Die Globalisierung ist schließlich nicht nur an der Zürcher Goldküste, sondern gerade im Kanton Zug und am Genfer See zuhause. Wie kann Demokratie unter den Bedingungen globaler Märkte und Finanzströme, mit denen die Schweiz engstens verwoben ist, organisiert werden? Welche Folgen hatte die Globalisierung für die Demokratie in der Schweiz? Mehr als je zuvor bedeutet Demokratie die Organisation politischer Gleichheit unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit.

Anmerkungen:
1 U. a. Philip Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Ein Essay, Berlin 2020; Steven Levitsky / Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt, München 2018; David Runciman, How democracy ends, New York 2018.
2 Wolf Linder, Schweizerische Demokratie. Institutionen – Prozesse – Perspektiven, Bern 2017, S. 295ff.
3 Gerhard Lehmbruch, Die korporative Verhandlungsdemokratie in Westmitteleuropa, in: Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft 2 (1997), S. 19–41.

Redaktion
Veröffentlicht am
07.08.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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